02.11.

Mi / 10:00 – 12:00

„Zu Rande kommen“

Randnotizen in der digitalen Ferdinand Tönnies-Briefedition

Uwe Dörk & Alexander Wierzock, KWI

Online (Zoom) & Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI), Raum 106, Goethestr. 31, 45128 Essen

Im topischen Sprachgebrauch sind Marginalien und Quisquilien austauschbar. So möchte etwa die Rede, dass dieses oder jenes eine Randnotiz bzw. Fußnote der Geschichte bleiben wird, auf polemische Weise die Unwichtigkeit einer Sache ausweisen. Aber schon die Topoi des nur „am-Rande -Sagens“ oder gar des „zu-Rande-Kommens“ machen deutlich, dass wir es hier keineswegs mit einer bloßen Nebensächlichkeit zu tun haben. Wesentlich ist, dass Randtexte je nach Autor nicht nur ästhetisch raffiniert gestaltet (wie etwa bei Theodor Fontane), sondern aufgrund Ihrer Inhalte auch mindestens so bedeutsam sein können wie das, was in den Kerntexten steht.

Unser Vortrag möchte die Randnotiz anhand der Briefkommunikation des Soziologen Ferdinand Tönnies (1855–1936) ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, der diese Praxis als Stilmittel in besonders vertrauten Beziehungskonstellationen intensiv nutzte: Nur nach einer Serie von Briefwechseln, nur nach wiederholten persönlichen Treffen in physischer Anwesenheit, nur nach oder einhergehend mit – diskret oder explizit – bekundeter Sympathie griff er auf dieses Stilmittel zurück. Zudem lässt sich beobachten, dass seine Randnotizen in dem Maß häufiger und komplexer werden, wie seine Korrespondenzbeziehung persönlicher und intensiver wurde; kühlte die Beziehung ab, reduzierten sich auch die Randnotate und ihre Komplexität. Die Frage, der wir im Rekurs auf diese Beobachtung nachgehen werden, richtet sich auf das Konzept der „Gemeinschaft“: Inwiefern hängt Tönnies‘ Praxis, mithilfe von Randbeschriftungen eine vertraute Kommunikationssituation herzustellen, mit seiner Theorie von „Gemeinschaft“ zusammen? Inwieweit lassen sich die hier beobachtbaren Formen der über den Rand hinweg gestalteten Gemeinschaft mit seinen Theorieelementen von Gemeinschaft in Beziehung setzen und wo bestehen ggf. Differenzen?

Indem wir das Aufkommen, die Konjunktur sowie Form und Funktion der Randbeschriftung näher beleuchten, möchten wir zugleich, wenn auch eher en passant einen Einblick in unsere entstehende digitale Briefedition von Ferdinand Tönnies zu geben. Da sich Tönnies´ Randnotizen teilweise über mehrere Seiten erstrecken, sich in mehreren Sinneinheiten und verschiedene Arten – z.B. fortlaufender Text, Sternkommentar, Fußnote, Ergänzung – untergliedern können, stellen sie auch für die editorische Praxis eine Herausforderung dar. Da bisherige Editionen Randnotizen im besten Fall entsprechend der diplomatischen Transkriptionskonvention lediglich topografisch wiedergeben, kann unsere Edition nicht an schon etablierte editorische Praktiken anschließen.