Unter dem Titel Die Moral von der Geschicht‘? Über Biopolitik, Bioethik und den Wert des Lebens in Deutschland waren am 04. November 2025 die Philosophin Petra Gehring (Darmstadt) und die Historikerin Dagmar Herzog (New York) zu Gast im Gartensaal des KWI. Anlässlich Gehrings jüngst erschienener Studie Biegsame Expertise. Geschichte der Bioethik in Deutschland 1970-2010 (2025) und Herzogs Ideengeschichte geistiger Behinderung in Deutschland, Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte (2024) stand die Frage im Zentrum, wie die Geschichte von Bioethik und Biopolitik in Deutschland seit 1970 zwischen Rückbezügen auf die eugenisch motivierten Medizinverbrechen während der Nazi-Herrschaft und steter gesellschaftlicher Neuerung zu verstehen ist.
In zwei facettenreichen Vorträgen präsentierten Gehring und Herzog ihr Material und einige Thesen. Deutlich wurden die Bezüge zwischen den Büchern vor allem hinsichtlich der Nachgeschichte der sogenannten „Euthanasie“. Seit den 1980er Jahren, als ein Gedenken an die Opfer der nazistischen Patientenmorde und Zwangssterilisationen gerade erst entstand, und Inklusionsbemühungen eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz erlangten, wurde in (West-)Deutschland angesichts rasanter medizintechnologischer Entwicklungen (v.a. im Bereich der Pränataldiagnostik), der Debatte um die Aussagen des Bioethikers Peter Singer und – in den 1990er Jahren – der EU-Bioethikkonvention heftige Kritik an bioethischen Abwägungen geübt. Darüber hinaus seien die historischen NS-Bezüge bei der Entstehung der Bioethik in Deutschland als einer neuen Form angewandter Ethik kein Leitmotiv gewesen, so Gehring.
Die anregende Diskussion mit dem Publikum, in der die internationalen Aspekte der Geschichte der Eugenik und die Integration der kritischen Stimmen in der Bioethik-Debatte betont wurden, unterstrich die Bedeutung der Themen Biopolitik und Bioethik(-kritik) sowie den Umgang mit beeinträchtigten Menschen im Lichte der bio-, medizin- und gentechnologischen Entwicklungen für eine Gesellschaftsgeschichte des ausgehenden 20. und des 21. Jahrhunderts. Im Sinne einer kritischen, alltagsgeschichtlichen Perspektive auf das Thema wäre zu fragen: Um wessen Bioethik handelte es sich?