Wer Lust aus Gewalt zieht, scheint sich schuldig zu machen oder irritiert zumindest moralische Empfindungen. Allerdings deuten die vielen kulturellen Artefakte, in denen Gewalt erfahren werden kann – von Computerspielen und Horrorfilmen über True Crime Podcasts bis zu Genres von Pornografie – darauf hin, dass Gewaltlust weit verbreitet ist. Daher steht zu vermuten, dass sie nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Funktionen ausübt. Es existiert eine dunkle Seite des Lustprinzips, die sich im Genießen von Herabsetzung und Dominanz offenbart. Sie kennt vielfältige Formen: Gewaltlust kann ein beidseitiges Begehren sein, das Menschen gezielt miteinander ausleben. Sie kann sich als sozialer Sadismus in Misogynie und Rassismus Bahn brechen und eine besorgniserregende politische Schlagkraft entwickeln. Als Masochismus kann sie sich auch gegen das eigene Selbst wenden.
Sigmund Freud spekuliert kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, dass Gewaltlust in Kombination mit den Schuldgefühlen, die ihr auf dem Fuße folgen, Kultur erst begründet. Gerade in der Zeit um 1900 wird viel über den Zusammenhang von Lust und Gewalt nachgedacht, etwa in der entstehenden Sexualwissenschaft und in der Psychologie. Vor diesem Hintergrund spüren Iris Därmann (Sadismus mit und ohne Sade, Berlin 2023) und Roland Spalinger (Heiliges Leiden. Weiblich codierter Masochismus in Dolorosas (alias Maria Eichhorn) „Confirmo te chrysmate“, ZÄK 2024) in zwei Kurzvorträgen der Frage nach, inwiefern Gewaltlust ein spezifisch modernes Gefühl ist. Zur Diskussion steht, ob die Gewalträume und Bildwelten des europäischen Kolonialismus genauso wie die patriarchalen Strukturen der bürgerlichen Familie um 1900 zentrale Katalysatoren einer Lust an der Unterwerfung sind, die sich von der strafenden und rächenden Gewalt vorheriger Epochen unterscheidet. Einen privilegierten Ort der Artikulation findet, so ihre These, diese moderne Gewaltlust auch in der Literatur, die jedoch zugleich Möglichkeiten der kritischen Verarbeitung bereithält.
Welche möglicherweise produktiven Irritationen der Blick auf die Zeit um 1900 für das Verständnis von Gewalt und Lust bereithält, ist Gegenstand des Gesprächs, das Iris Därmann und Roland Spalinger im Anschluss an ihre Kurzvorträge mit Morten Paul und Roxanne Phillips führen. Lässt sich ausgehend von den Verhandlungen von Gewaltlust am Anfang des 20. Jahrhunderts auch ein neues Licht auf unsere Gegenwart werfen?