Im Juli 2020 haben Bundestag und -rat die Gesetze zum Kohleausstieg bis 2038 und zur Stärkung der regionalen Wirtschaft beschlossen. Wie können zwei vom Kohleausstieg besonders stark betroffene Regionen – die Lausitz und das Rheinische Revier – den Strukturwandel demokratisch, ökologisch und sozial umsetzen? Das Kulturwissenschaftliche Institut Essen und das Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung Potsdam (IASS) legen dazu gemeinsame Empfehlungen für die Politik in der jeweiligen Region vor: „Partizipative Governance und nachhaltiger Strukturwandel“.
An diesem Policy Paper beteiligten sich aus dem Projektteam BioökonomieREVIER der Leiter Jan-Hendrik Kamlage sowie Sonja Knobbe, Ute Goerke und Julia Reinermann. Die Aufgabe der Projektgruppe im KWI in dem vom Forschungszentrum Jülich geleiteten Verbundprojekt ist es, einen partizipativen Koordinierungs- und Handlungsrahmen für die lokalen Bürger*innenschaft und organisierte Zivilgesellschaft zu entwickeln, zu erproben und zu evaluieren.
Die beiden Reviere, das Rheinische und das Lausitzer, unterscheiden sich deutlich in ihrer Ausgangslage, konstatiert das Autor*innenteam um Jeremias Herberg vom IASS und Jan-Hendrik Kamlage vom KWI.
So finden sich im Rheinland gute infrastrukturelle und wirtschaftliche Ausgangbedingungen für einen Strukturwandel, allerdings erschwert der Zeitdruck eine transparent und langfristige Förder- und Beteiligungsprozesse. Dies hat auch Unzufriedenheit zur Folge. Nachhaltigkeit wird nur langsam zum politischen Leitbegriff und teilweise auch kritisch diskutiert. Ebenso fehlen noch bundespolitische Vorgaben und Ziele für die Regionen.
Da in beiden Regionen die demokratische Legitimation nachhaltiger Entwicklung gefährdet sei, empfehlen die Wissenschaftler*innen, schrittweise eine die Bürger*innen beteiligende Verwaltungsform (Partizipative Governance) zu etablieren, und zwar entlang von drei zentralen Themen:
- Es brauche greifbare und anwendbare Zukunftskonzepte für die Regionen. Dafür sei eine Struktur der Stakeholder- und Bürgerbeteiligung zu schaffen, die strukturiert und langfristig angelegt ist und Bürger*innen und organisierte Interessen einbindet
- Zuständigkeiten sollten definiert und Förderziele klar formuliert werden. Die Länder sollten Maßstäbe der Nachhaltigkeit für die Vergabe öffentlicher Gelder entwickeln und Prüfverfahren entwickeln.
- Es sei mehr Rückkoppelung von der Politik zu den Bürger*innen rund um die Strukturwandelpolitik vonnöten. Umfassende Information zähle dazu, aber auch die Förderung von Eigeninitiativen und Selbstgestaltung.
Ideen für die Zukunft: Zukunftsfonds und Bürgerausschuss
Aufgrund ihrer Analysen schlagen die Wissenschaftler*innen vor: einen Zukunftsfonds zu etablieren, umso eine krisenfestere Infrastruktur der Zivilgesellschaft aufzubauen. Die Mittel des Fonds sollten von einem Ausschuss mit zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern an gemeinnützige Einrichtungen vergeben werden. Bürgerausschüsse wiederum können Politik und Verwaltung direkt und konkret beraten, wenn aktive Beteiligung zu einem Ziel im Strukturwandel gemacht wird. Solche Ausschüsse tragen dazu bei, dass die Gesellschaft für den Wandel mobilisiert werde, sich beteilige und selbst organisiere. Sie stärken im besten Fall Stimmenvielfalt, Lernfähigkeit und lokale Anschlussfähigkeit im demokratischen Entscheidungsprozess.
„Wenn die Landesregierungen Instrumente wie etwa den vorgeschlagenen Ausschuss der Bürgerinnen und Bürger zielgerichtet einsetzen, indem sie ihn mit Entscheidungsgremien verzahnen und aktiv unterstützen“, erläutert Jeremias Herberg vom IASS – „dann vermag Beteiligung das Verwaltungshandeln für den Wandel zu stärken, sie kann die Qualität demokratischer Willensbildung steigern und eine den Wandel treibende nicht-staatliche Selbstorganisation fördern.“
Die Essener Projektgruppe empfiehlt speziell für das Rheinische Revier folgende Aspekte. Zukunftskonzepte benötigen Prinzipien nachhaltiger Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung. Die Zukunftsagentur Rheinisches Revier sollte als legitime und anerkannte Akteurin so umgebaut werden, dass sie die unterschiedlichen Interessen der Region besser abbildet. So sollte z. B. die Zivilgesellschaft stärker eingebunden werden.
Auch wird ein Zukunftsfonds Zivilgesellschaft im Rheinischen Revier vorgeschlagen, dessen Finanzmittel von einem aus der Bevölkerung per Zufallsauswahl gebildeten Bürger*innen-Ausschuss vergeben werden sollten. Aufgabe wäre die finanzielle Förderung von gemeinnützigen Initiativen und Projekten, der Aufbau sozial-ökologischer Ökonomien wie „Commons-Projekte“.
„Das Ziel aller Beteiligungsformate ist stets eine faire und gerechte Einbindung der regionalen Akteur*innen in die politischen Beratungs- und Entscheidungsprozesse – auch um eine ideelle und finanzielle Perspektive für eine Infrastruktur der Zukunft zu schaffen“, so Jan-Hendrik Kamlage.
(Text: IASS Potsdam, verändert durch KWI Essen)
Publikation
- Jeremias Herberg, Jan-Hendrik Kamlage, Julia Gabler, Ute Goerke, Konrad Gürtler, Tobias Haas, David Löw Beer, Victoria Luh, Sonja Knobbe, Julia Reinermann, Johannes Staemmler, Sandra Venghaus: Partizipative Governance und nachhaltiger Strulturwandel. Zwischenstand und Handlungsmöglichkeiten in der Lausitz und im Rheinischen Revier
DOI: 10.2312/iass.2020.037
Wissenschaftliche Ansprechpartner
Jeremias Herberg
Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung/
Institute for Advanced Sustainability Studies e.V. (IASS)
Tel. +49 (0)331 288 22-421
E-Mail: jeremias.herberg@iass-potsdam.de
Jan-Hendrik Kamlage
Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI)
PartizipationsKultur
Tel. +49 (0) 201 183-8127
Jan-Hendrik.Kamlage@kwi-nrw.de