Im Rahmen des Workshops Das ungreifbare Selbst des Ich und des Wir. Psyche und Gesellschaft Anfang September am KWI Essen hielt die Soziologin Heike Delitz (Regensburg) einen Abendvortrag mit dem Titel „Das Selbst der französischen Soziologie und Anthropologie: Vom Subjekt als ‚Illusion‘ und als ‚Produkt‘ bis zu amerindianischen Subjekt-Begriffen“. Darin setzte sie sich mit dem Phänomen einer zunehmenden „Unverfügbarkeit des Subjekts für sich selbst“ als Kern einer bestimmten französischen bzw. „französisch-denkenden“ Traditionslinie auseinander. Diese Linie, die von Émile Durkheim und seiner Schule (die erste Etappe: das durkheimianische Moment) über Claude Lévi-Strauss und Michel Foucault (die zweite Etappe: das strukturalistische Moment) bis hin zu Philippe Descola und Eduardo Viveiros de Castro (die dritte Etappe: das amerindianische Moment) reicht, ist nicht von einer bruchlosen Kontinuität gekennzeichnet, sondern von Radikalisierungsschüben als Reaktionen auf epochale Probleme, die sich um die Frage nach Subjekt, Gesellschaft und Wirklichkeit kristallisieren. In Anschluss an Etienne Balibar ging Delitz von einer Bewegung der „De- und Rekonstruktion des Subjekts“ aus, worin die Dekonstruktion den Status des Subjekts als Zugrundeliegendes angreift (was einer der etymologischen Wurzeln von subiectum entspricht), während die Rekonstruktion das Subjekt sozusagen wieder einführt, allerdings als Effekt, als Gemachtes – und gerade durch dieses Gemacht-sein als sich selber unverfügbares.
Die Radikalisierungstendenz zeigt sich bereits im ersten Moment: Die Durkheim-Schule rekonstruiert in ihrem Kategorienprojekt die gesellschaftliche Bedingtheit der vermeintlich ahistorischen Erkenntniskategorien und entlarvt das Subjekt als Produkt gesellschaftlicher Strukturen. Im zweiten Moment findet eine weitere Radikalisierung statt, indem Claude Lévi-Strauss Durkheim (ähnlich wie Marx zuvor mit Hegel) „vom Kopf auf die Füße stellt“ und die Gesellschaft nicht als Ausgangspunkt nimmt, sondern die Zeichen- bzw. Bedeutungssysteme, die erst die Gesellschaft (und auch das Subjekt) erzeugen. Der Vorrang des Symbolischen lässt das Subjekt zunehmend ephemerer werden. Michel Foucault wird, in Anschluss an Lévi-Strauss und Louis Althusser, diesen Gedanken machttheoretisch ausgehend von der Frage weiterdenken, wie Diskurse Menschen zu Subjekten (hier im zweiten etymologischen Sinne als unterworfene) machen. Im dritten Moment findet wiederum eine Radikalisierung statt, die sich, ebenfalls an Durkheim und Lévi-Strauss anschließend, in eine andere Richtung bewegt: Im Zuge des „ontological turns“ werden in der poststrukturalistischen Anthropologie die eigenen Begriffe und Analysekategorien in den Vergleich mit denen anderer Kulturen miteinbezogen und so als „Trasformationen“ bzw. Variationen einer Modulation von Relationsmöglichkeiten erkannt, wodurch deutlich wird, dass alle Entitäten potentiell „Menschen“ oder „Subjekte“ sein können. Die daraus folgende Dezentrierung – das Anders-werden des Eigenen durch die Einverleibung der Alterität – der eigenen Kategorien erlaubt es nunmehr, mit diesen zu experimentieren.
Im Anschluss an den Vortrag zogen Jens Elberfeld (Halle-Wittenberg), Sandra Janßen (Uni Erfurt) und Antonio Roselli (Uni Magdeburg) mit Heike Delitz in einer Diskussionsrunde Grenzen zu anderen Traditionslinien und präzisierten die Stellung einzelner Positionen innerhalb der rekonstruierten Linie. Gemeinsam mit dem interessierten Publikum beleuchteten sie Paradoxien und berücksichtigten nicht zu Wort gekommene Denker*innen.
Text: Antonio Roselli