Annotierte ZeitenRezeptionsnetzwerke Enzyklopädischer Fiktion

Wer liest heute Langromane – und aus welchen Gründen? Dieses Forschungsprojekt setzt sich im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Ästhetische Eigenzeiten“ das Ziel, Formen der Zeitlichkeit im enzyklopädischen Gegenwartsroman zu untersuchen. Damit sind lange Narrationen gemeint, die Zeitskalen jenseits menschlicher Erfahrung, linearer Abfolgen oder erzählbarer Ereignishaftigkeit in den Blick nehmen. Bei der Darstellung zeitlich ausgedehnter Objekte stellen diese Langromane den Anspruch, eine vollständige Form des Zeitwissens zu vermitteln. Sie streben somit eine Übersicht über Zeiträume an, die sich alltäglicher menschlicher Erfahrung entziehen. Dieser Form expansiver Strukturäquivalenz zwischen ausgedehnten Zeiten und ausufernden Romanen geht das Forschungsprojekt zunächst aus formalästhetischer und erzählwissenschaftlicher Perspektive nach. Insbesondere sollen dabei die selbstbezüglichen Verfahren in den Blick genommen werden, durch die Romane ihre eigene Zeitlichkeit in den Blick nehmen und eine Poetik narrativer Ausdehnung entwerfen.

Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass sich das eigenzeitliche Potenzial enzyklopädischer Fiktion im Zusammenspiel mit den tatsächlichen Lektürepraktiken empirischer Interpretationsgemeinschaften herausbildet. Diese Aushandlung des Zeitwissens soll literatursoziologisch vor allem anhand von Lesegruppen rekonstruiert werden, die den enzyklopädischen Romanprojekten umfangreiche Kommentierungs- und Annotationsprojekte zur Seite stellen. Die Online-Diskussion von Alan Moores „Jerusalem“ (2012) etwa stellt den Zeitsträngen des Romans umfangreiche Einordnungen und Vermessungen zur Seite. Dabei imitieren Subkulturen, Fans und para-akademische Gemeinschaften das Zeit-Wissen des Romans, ordnen es neu und setzen es in Beziehung zu den Zeiträumen des eigenen Lesens. Im Mittelpunkt der vernetzten Lektüreverfahren steht dabei immer auch die Frage, ob enzyklopädische Langromane ihre erforderliche Lesezeit wert sind.

Unser Erkenntnisziel ist somit die doppelte Zeitreflexion der Narrationen und der Lesegemeinschaften. Durch die Untersuchung enzyklopädischer Romane und ihrer Rezeptionsnetzwerke möchten wir herausfinden, welche Formen des Wissens die Interaktion ästhetischer und sozialer Zeitlichkeiten generiert.