Der Vortrag greift die gut dokumentierte Geschichte eines deutschen Juristen im 20. Jahrhundert auf. Helmut Schneider, Gegner des Nationalsozialismus, wird leitender Mitarbeiter im Personalbereich der IG Farben, die 1941-1945 in unmittelbarer Nachbarschaft zum KZ Auschwitz mit Hilfe von Tausenden jüdischer Häftlinge ein großes Chemiewerk aufbaute. Er wird damit zum Mitorganisator des Systems der Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen und damit der „Vernichtung durch Arbeit“ in diesem Lager, zum systemischen Mittäter.
Im kleinen Kreis äußert er sich kritisch über die „Schinderei“ der Häftlinge und die „Gewaltherrschaft“ der Nazis. Zugleich wird er zum Beschützer einer großen Gruppe französischer Zwangsarbeiter, deren Aktivitäten für die Résistance er unterstützt und die er im Januar 1945 auf dem gefährlichen Weg nach Westen begleitet. Das trägt ihm den Titel des „anti-nazi assesseur Schneider“ ein, die franz. Regierung lobt seine „bienveillance“ gegenüber den Zwangsarbeitern. Mit den jungen Franzosen schließt er eine lebenslange Freundschaft, die u.a. zu einer deutsch-französischen Städtepartnerschaft führt. Nach seiner Zeugenaussage im Nürnberger Prozess gegen die IG Farben und einem langwierigen Entnazifizierungsverfahren und einem Strafprozess wird er 1949 Oberstadtdirektor von Goslar, Verfasser politisch-philosophischer Texte und Briefpartner und Freund von Ernst Jünger.
Schneider ist eine gespaltene Persönlichkeit. Er funktioniert im System der IG Auschwitz, trotzdem arbeitet er für die französische Résistance und informiert einen deutschen Widerstandskämpfer bei seinen Besuchen in Auschwitz über die Vorgänge im Lager und über Rüstungsdetails. Gleichwohl bleibt er seinem Chef in der Aussage in Nürnberg verbunden und hält ihm eine Grabrede, die das Wort Auschwitz vermeidet. In Auschwitz verdrängt er sein Mittun im System durch die Sorge für seine Franzosen, nach 1945 verdrängt er eine selbstkritische Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit durch die dauerhafte Freundschaft zu den Franzosen.
Winfried Schulze (geb. 1942) ist seit 2008 emeritierter Professor für Neuere Geschichte der LMU München. Sein Hauptarbeitsgebiet ist die Geschichte der Frühen Neuzeit, wo er von der Geschichte der Reformation und Gegenreformation bis zur Französischen Revolution gearbeitet hat. Er hat aber auch im Bereich der Zeitgeschichte und der Historiographiegeschichte geforscht und sich mit dem Problem der Ego-Dokumente als Quellengattung beschäftigt. Daneben hat er sich immer in der Organisation von Wissenschaft engagiert, so als Vorsitzender des Wissenschaftsrats 1998-2001, als Gründungsdirektor des Institute for Advanced Study der LMU München 2008-2009 und als Direktor des Mercator Research Center Ruhr in Essen von 2010 bis 2019. 1996 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.