„Ein Mann läuft auf der Straße, stolpert und fällt. Die Passanten lachen.“ Henri Bergson bringt seine Studie Le Rire mittels komisch irritierter Abläufe in Gang, die ihn zur Argumentation führen, Lachen sei ein gesellschaftliches Korrektiv für abweichendes Verhalten. Eine solche Komik des Stürzens muss jedoch nicht mit Gelächter und Beschämung quittiert werden. Denkbar wäre, dass Zuschauende auf das ebenso peinliche wie lustige Missgeschick mit plötzlich eingezogenem Kopf, zusammengebissenen Zähnen und hochgezogenen Schultern reagieren – oder mit anderen körperlichen Anzeichen für die Empfindung von Schamlust. Vor diesem Hintergrund interessiert sich der Vortrag für das Verhältnis zwischen körperkomischen Reizen und Cringe als einem Affekt, in dem sich Vergnügen und Unbehagen unentwirrbar vermischen. Im Fokus stehen artistische Praktiken, die den darstellenden Körper realer Gefahr aussetzen und ihn doch zum komischen Spektakel erheben. Dabei werden Verknüpfungen ausgelotet zwischen dem Risiko körperkomischer Darbietungen, die (potenziellen) Schmerz bei Zuschauenden fühlbar machen, und Cringe als einer womöglich milderen, aber ebenfalls ästhetisch evozierten somatischen Empfindung.
Das Projekt Cringe. Ästhetik und diskursive Praxis der Schamlust ist ein interdisziplinäres Projekt zwischen den Universitäten Heidelberg und Greifswald, das von der Volkswagen Stiftung in der Förderlinie Aufbruch gefördert wird (April 2024–September 2025). Es zielt auf eine Theorie von Cringe, in der sich soziolinguistische und literaturwissenschaftliche Perspektiven verbinden und wechselseitig erhellen. Es versteht Cringe als ambivalentes Vergnügen an diskursiven Praktiken und ästhetischen Darstellungen, die als peinlich, unangemessen oder beschämend wahrgenommen werden. Als affektive und verkörperte Reaktion der Schamlust sind Cringe-Phänomene und ihre Beschreibungen besonders geeignet, um aktuelle Aushandlungen gesellschaftlicher Normen zu beobachten.