Frédéric Hambalek entwirft mit seinem Kinofilm „Was Marielle weiß“ ein denkbar schlichtes Sozialexperiment: Was würde passieren, wenn ein Kind alles sehen und hören könnte, was die Eltern tun und von sich geben?
Natürlich wird diese innerfamiliäre Totalüberwachung schnell zum Albtraum, und zwar nicht nur für die Eltern, die sich im Bemühen um Aufrichtigkeit unter dem ständigen Blick des Kindes, vor dem sie bestehen wollen, bis zur Zerfleischung winden, sondern auch für die Tochter selbst, die sich alsbald ihre fröhliche Unwissenheit zurückwünscht. Daraus erwächst eine beunruhigende Frage: Laufen wir etwa moralisch da zur Höchstform auf, wo wir lügen dürfen? Wie sähe eine Ethik des Schwindelns und der Verlogenheit aus? Und ist in Zeiten von Fakenews und erodierender Wahrheitsansprüche überhaupt ein „Ja-Sagen und Gut-heißen der Unwissenheit“ (Nietzsche) angebracht? Der Vortrag folgt diesen Fragen anhand von Kants halsbrecherischen Gedanken zu den „Bewohnern der Gestirne“ und Vladimir Jankélévitchs moralphilosophischen Überlegungen zur Lüge.