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Promotionsprojekt: Geschichte in BewegungDas Buch "Vordenker der Vernichtung" und die Genese der NS- und Holocaust-Forschung, 1977-1998

Am Epochenbruch von 1989/91 veränderte sich die Geschichtsschreibung über den Nazismus und Holocaust fundamental. Die Studie Vordenker der Vernichtung (1991) von Götz Aly und Susanne Heim erschien just in diesem Moment politischen wie erkenntnis-, sozial- und gesellschaftstheoretischen Wandels. Es handelt sich um ein Schlüsselwerk der NS- und Holocaust-Geschichtsschreibung. Darin untersuchte das Autorenduo die Bedeutung wissenschaftlicher Eliten und ihrer Planungen für die mörderische Politik des NS-Staates. Aly und Heim lösten eine heftige öffentliche und fachliche Kontroverse aus, da sie einen Zusammenhang zwischen der kapitalistischen Modernisierung in Ostmitteleuropa und der Ermordung der europäischen Juden herstellten.

Das Dissertationsvorhaben schaut in exemplarischer Absicht auf das Buch Vordenker der Vernichtung, um anhand der Entstehung und Wirkung wesentlichen Veränderungen in der NS- und Holocaustforschung nachzugehen. Die Vorgeschichte des Buches reicht bis in die frühen 1980er Jahre zurück, als die kritische Emphase eines Teils der westdeutschen Gesundheitsbewegung zunächst in ein historisches Interesse an der NS-Gesundheits- und Sozialpolitik gemündet hatte. Aly und Heim waren Teil eines Forschungs- und Autorenkollektivs, dem Quereinsteiger wie der Arzt Karl Heinz Roth oder die Psychotherapeutin Angelika Ebbinghaus angehörten. Sie agierten außerhalb der Universitäten und spürten neue Quellen auf, auch in der Volksrepublik Polen und der DDR. Der Logik einer aktivistischen Gegenöffentlichkeit folgten die Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik: Das 1984 gegründete Periodikum diente als Ort der wissenschaftlichen Profilierung und ging dem historischen Sachbuch ebenso voraus wie andere (tages-)journalistische Arbeiten. Zugleich veränderte sich der Buchmarkt für Darstellungen zur NS-Zeit, wie am Beispiel der „Schwarzen Reihe“ des S. Fischer-Verlages zu zeigen sein wird.

Aufschlussreich für eine historiographie- und wissenschaftsgeschichtliche Analyse sind die Vordenker der Vernichtung aufgrund der Diskussionen über Methoden- und Perspektivenwahl, hinsichtlich des Verhältnisses von Empirie und (Faschismus-)Theorie und nicht zuletzt wegen der Frage nach dem Ort des Holocaust in der Geschichte der Moderne. Die Geschichte des Buches Vordenker der Vernichtung zu schreiben bedeutet, die damaligen Debatten der NS- und Holocaustforschung zu historisieren und in die epistemologischen und gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit einzubetten. Darüber hinaus geraten Aspekte der kulturwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung in den Blick. Nach ästhetischen Kriterien ist im Grenzbereich zwischen Fachwissenschaft und politischer Öffentlichkeit ebenso zu fragen wie nach Praktiken der geisteswissenschaftlichen Arbeit – im dokumentarischen Umgang mit den Quellen und in den Ansätzen der Biographieforschung ebenso wie in Bezug auf journalistische Darstellungsweisen und die Politisierung historischer Wissensbestände.