Der Kommunikative Konstruktivismus ist ein neuer Ansatz in der soziologischen und kommunikations- bzw. medienwissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung (Keller & Knoblauch & Reichertz 2012, Knoblauch/Schnettler 2004, Knoblauch 2013, 2017, Christmann 2016, Couldry & Hepp 2016, Reichertz 2017). Viele Grundlagen, Ideen und Konzepte teilt der Kommunikative Konstruktivismus mit dem Sozialkonstruktivismus (Berger/Luckmann 1970), andere sind jedoch neu und resultieren teilweise aus der kritischen Auseinandersetzung mit diesem (Knoblauch 1995, Keller 2005, Reichertz 2009) und neueren diskurs- und praxistheoretischen Ansätzen. Der Kommunikative Konstruktivismus versteht sich also als die Weiterführung einer Theorierichtung, nämlich der Wissenssoziologie. Insofern führt er auch die Hermeneutische Wissenssoziologie methodologisch und methodisch weiter (Soeffner 2004, Hitzler & Reichertz & Schröer 1999). Neu ist vor allem die Neugewichtung zentraler Begriffe wie kommunikatives Handeln, Diskurs, Körper und Praxis. Insofern ist der Kommunikative Konstruktivismus weder ein völlig neues Programm noch gar ein eigenständiges Paradigma.
Der kommunikative Konstruktivismus stellt um – und das ist eine weitreichende Neuausrichtung – von Sprache und Wissen als Basis der gesellschaftlichen Konstruktion auf kommunikatives Handeln als grundlegende Operation bei der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Diese Umstellung von Sprache und Wissen auf kommunikatives Handeln (schon bei Thomas Luckmann angedacht und ausgesprochen – Luckmann 2002) ist nicht nur eine kleine Verschiebung des Akzents, sondern ein grundlegender Wandel des Sozialkonstruktivismus.
Zur Erläuterung: Sprechen, also der situative Einsatz Sprache ist (insbesondere in den Arbeiten von Luckmann) die zentrale Instanz der Herstellung des Sozialem: Denn in der Sprache findet sich das Wissen einer Gesellschaft materialisiert und institutionalisiert und indem die Menschen beim Miteinander-Sprechen das sprachlich gebundene Wissen miteinander austauschen, versichern sie sich ihrer Wirklichkeit. Letztlich ist Sprache aus Berger und Luckmanns sprachsoziologischer Sicht vor allem ein Wissensspeicher und das Miteinander-Sprechen, also das kommunikative Handeln, die jeweilige aktuelle Neuaufrufung und Aktivierung dieses Wissensspeichers und der Abgleich des Wissensspeichers mit dem Wissen der anderen. Damit wird die Bedeutung kommunikativen Handelns deutlich unterschätzt – was vor allem daran liegt, dass der Begriff des kommunikativen Handelns nicht nur in Deutschland unzureichend bestimmt wurde und oft auch noch wird.
Dem gegenüber steht eine andere, ebenfalls lange Traditionslinie des Kommunikationsbegriffes, die so im wesentlichen in Nordamerika entstanden ist und die weniger die Botschaft und das Sprechen in den Vordergrund stellt, sondern sehr viel mehr die Wirkung und die Handlung – somit die Bedeutung der Kommunikation für die Identität der Kommunizierenden. Kommunikation ist im Sinne dieser Tradition bewusstes und geplantes ebenso wie nicht bewusstes, habitualisiertes und nicht geplantes zeichenvermitteltes Handeln. Sie ist symbolische Interaktion – von konkreten Menschen für konkrete Menschen, in bestimmten Situationen und bestimmten Soziallagen und: mit bestimmten Absichten. Kommunikation kann sprachliche Zeichen benutzen, muss es aber nicht. Kommunikation findet auch ohne Sprache statt, denn Sprache ist nur ein Werkzeug von Kommunikation.
Kommunikatives Handeln ist mithin nicht (mehr) das Mittel, mit dem zwei Monaden mit verhängten Fenstern versuchen, einander sichtbar zu machen – ein Versuch, der notwendigerweise scheitern muss, da jede Monade in ihrer eigenen Welt eingeschlossen bleibt. Auch sind nicht mehr individualisierte und egologische Bewusstseinsleistungen der Ausgangspunkt von Kommunikation, sondern die mit Handlungsproblemen einhergehenden kommunikativen Handlungen der anderen und die kommunikativen Handlungen mit anderen.
Grundlegend und neu ist im Kommunikativen Konstruktivismus die Umstellung von ‚Wissen’ auf ‚Kommunikation’. Diese Umstellung trägt der Tatsache Rechnung, dass Wissen nicht von Menschen in einem monologischen Wahrnehmungs- und Erkenntnisakt geschaffen wird, sondern dass sowohl die Konstitution von Wissen als auch dessen Weitergabe zwingend an Kommunikation gebunden ist. Wissen (im Unterschied zu Information) bedeutet, die Handlungsbedeutung des Gewußten zu verstehen. Wissen ist also stets gewonnene, kommunikativ geschaffene und kommunikativ gefestigte Erfahrung der jeweiligen Gemeinschaft. Ich weiß dann nicht nur, was etwas ist, sondern auch, was es für mich bedeutet, also was ich zu tun habe.
Mit der Umstellung von Wissen auf Kommunikation oder genauer: mit der Umstellung von sprachlich gebundenem Wissen auf die Konstruktion von Wissen mittels kommunikativen Handelns findet nicht eine kleine Akzentverschiebung innerhalb des Sozialkonstruktivismus statt, sondern ein wesentlicher Wandel. Denn nicht mehr das Wissen, seine Materialisierungen, seine Klassifikationen und seine Systematiken stehen im Zentrum der Forschung, sondern situiertes kommunikatives Handeln als Mittel und Ort der Aktualisierung und Aushandlung von Wissen.
Kommunikatives Handeln ist, und das ist eine weitere wesentliche Umstellung, immer soziales Handeln, das im Wirken sein Ziel hat und das deshalb immer auch eine spezifische Kommunikationsmacht entfaltet (Reichertz 2009). Über die Bedingung dieser Entfaltung von Kommunikationsmacht ist noch vieles ungeklärt. Den Fokus der Kommunikationstheorie von ‚Verstehen’ auf ‚Macht’ zu richten, bedeutet aber nun nicht, die vorliegenden soziologischen und kommunikationswissenschaftlichen Theorien zum kommunikativen Handeln lediglich um ein Kapitel zu erweitern, also ein ergänzendes Kapitel über die Kommunikationsmacht zu schreiben. Eine solche Umstellung bedeutet, dass der gesamte Prozess menschlicher Kommunikation vor dem Hintergrund der Wirkungs- und Machtfrage neu überdacht werden müssen.
Der Arbeitskreis hat das Ziel gemeinsame Publikationen anzuregen und zu erstellen, beispielsweise kleinere Aufsätze für Journals und Zeitschriften, sowie gemeinsame Buchprojekte, in denen die theoretische und methodische Weiterentwicklung des Kommunikativen Konstruktivismus angestrebt wird. Erste Publikationen sind: Reichertz & Tuma 2017, Reichertz & Bettmann 2018. Zudem werden immer wieder Tagungen und Workshops ausgerichtet, deren Ziel es ist, in Auseinandersetzung mit anderen Theorieansätzen und Disziplinen zu erkunden, wie fruchtbar die Perspektive des Kommunikativen Konstruktivismus ist.
Literatur:
- Berger, Peter L. / Luckmann, Thomas (1970): Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Fischer.
- Christmann, Gabriela (Hrsg.) (2016): Zur kommunikativen Konstruktion von Räumen. Wiesbaden: Springer.
- Couldry, Nick / Hepp, Andreas (2016): The Mediated Construction of Reality. Cambridge: Polity Press.
- Hitzler, Ronald / Reichertz, Jo / Schröer, Norbert (Hrsg.) (1999): Hermeneutische Wissenssoziologie. Standpunkte zur Theorie der Interpretation. Konstanz: UVK.
- Keller, Reiner (2005): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Wiesbaden: VS-Verlag.
- Keller, Reiner / Knoblauch, Hubert / Reichertz, Jo (Hrsg.) (2012): Kommunikativer Konstruktivsmus. Wiesbaden: Springer.
- Knoblauch, Hubert (1995): Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. Berlin und New York.
- Knoblauch, Hubert (2013): Communicative constructivism and mediatization. in: Communication Theory, 23(3) S. 297-315.
- Knoblauch, Hubert (2017): Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit. Wiesbaden: Springer VS.
- Knoblauch, Hubert/Schnettler, Bernt (2004): Vom sinnhaften Aufbau zur kommunikativen Konstruktion. In: Gabriel, Michael (Hrsg.): Paradigmen der akteurszentrierten Soziologie. Wiesbaden: VS Verlag. S. 121-138.
- Luckmann, Thomas (2002): Wissen und Gesellschaft. Konstanz: UVK.
- Reichertz, Jo (2009): Kommunikationsmacht. Was ist Kommunikation und was vermag sie? Und weshalb vermag sie das? Wiesbaden: VS Verlag.
- Reichertz, Jo (2017): Die Bedeutung des kommunikativen Handelns und der Medien im Kommunikativen Konstruktivismus. In: Themenheft der Zeitschrift Medien & Kommunikationswissenschaft. Baden-Baden: Nomos. S. 252-274.
- Reichertz, Jo & René Tuma (Hrsg.) (2017): Der Kommunikative Konstruktivismus bei der Arbeit. Weinheim: Juventa.
- Reichertz, Jo & Richard Bettmann (Hrsg.) (2018): Braucht die Mediatisierungsforschung den Kommunikativen Konstruktivismus? Wiesbaden: VS Springer.
- Soeffner, Hans-Georg (2004): Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Konstanz: UVK.