Ferdinand Tönnies war einer der ersten deutschen Gelehrten, die sich explizit als Soziologen begriffen haben. Sein 1887 verfasstes Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft bildete in den 1920er Jahren das gesellschaftstheoretische Standardwerk der Soziologie. International gut vernetzt, war Tönnies seit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie Mitglied des Vorstandes, nach dem Ersten Weltkrieg ihr erster Präsident und als wichtiger Repräsentant der deutschsprachigen Soziologie eng mit der universitären Etablierung der Disziplin verbunden. Mitgliedschaften in Fachvereinigungen wie dem Institut International de Sociologie in Paris, der American Sociological Association, der Sociological Society in London belegen seine transnationale Bedeutung. Ebenso war Tönnies ein public intellectual, der in der Sozial- und Lebensreformbewegung des Kaiserreichs, im Aufbau der Weimarer Demokratie und als Gegner des Nationalsozialismus Positionen bezog, die eng mit seinem Selbstverständnis als Soziologe verbunden waren. Mit dem Gemeinschaftsbegriff prägte er ein einflussreiches Konzept, das in der Weimarer Zeit quer durch alle politischen Lager und – zu seinem Bedauern – auch in der NS-Bewegung rezipiert wurde.
Diese Aspekte finden sich samt ihren komplexen historischen Hintergründen in den Tönnies-Briefen dokumentiert. Im Unterschied zu anderen soziologischen Gründungsfiguren wie Max Weber und Georg Simmel sind die Briefwechsel Tönniesʼ bisher jedoch weitgehend unpubliziert. Die geplante Edition möchte diese unbefriedigende Situation ändern, indem sie diesen weltweit zerstreuten Briefbestand in kritisch kommentierter Form der Fachwelt erstmalig digital zugänglich macht. Hierzu wurden in der Vorbereitung des Projektes über 1.700 Briefe ermittelt, die Tönnies zwischen 1873 bis 1935 an Personen aus der Wissenschaft, Politik, Sozialreform und dem Verlagswesen im In- und Ausland geschrieben hat. Darunter finden sich bekannte Namen wie Gertrud Bäumer, Albert Einstein, Friedrich Engels, Max Horkheimer, Ricarda Huch, Tomáš Garrigue Masaryk, Max Planck, Bertrand Russell, Carl Schmitt, Werner Sombart, Leo Strauss, Max Weber, Woodrow Wilson und viele andere.
Das KWI, welches unter der Leitung von Prof. em. Dr. Hans-Georg Soeffner das Editionsteam beherbergt, kooperiert zur Realisierung des von der DFG geförderten Projekts mit drei weiteren Institutionen: 1. der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek (SHLB) in Kiel, die den Tönnies-Nachlass betreut; 2. dem Trier Center for Digital Humanities (TCDH) der Universität Trier, das für die editorische IT-Konzeption und -Betreuung des Projektes zuständig ist; und 3. dem Kommunikations-, Informations-, Medienzentrum (KIM) der Universität Konstanz, das einerseits die technische Infrastruktur zur Verfügung stellt und andererseits mit dem Sozialwissenschaftlichen Archiv (SAK) die editorische Arbeit begleitet. Darüber hinaus wird das KIM nach Projektabschluss die dauerhafte Nutzung der Edition in technischer und inhaltlicher Hinsicht sicherstellen.
Bildnachweis
Ferdinand Tönnies um 1906, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel, Tönnies-Nachlass, Cb 54.14.